Wir sind wieder im Lockdown, momentan können SchülerInnen zwischen Distance Learning und Präsenzunterricht wählen. Dennoch bleibt der Schulalltag herausfordernd, findet Gymnasiallehrer Peter Maier.

Denn auch ihre Freizeit konnten sie Corona-bedingt nicht wie gewohnt erleben und gestalten. Zurecht schrieb Sara Maria Behbehani daher schon heuer im Mai in der Süddeutsche Zeitung unter dem Titel „Wir, Generation Corona“ über die Situation der Jugendlichen: „Statt die Welt zu erkunden, saßen sie zu Hause. Statt Liebe zu suchen, hielten sie Abstand. Die Pandemie hat Europas Jugend vieles genommen, was Jungsein ausmacht.“[i]

„Verlorene Generation Corona“?

Eine solche Prognose ist nach über eineinhalb Jahren Corona-Einschränkungen an den Schulen noch zu früh. Aber die Situation von jungen Menschen verdient endlich gesellschaftliche Beachtung und Anerkennung. Bevor man sie vorschnell als eine ‘verlorene Generation’ abstempelt, sollte man abwarten und beobachten, welche Resilienzfähigkeit in unseren Jugendlichen steckt.

Ungeachtet dessen sollten in diesem Zusammenhang aber Studien wie die des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf Beachtung finden, in der im Zeitraum Dezember 2020 bis Januar 2021 über Tausend Kinder und Jugendliche befragt wurden. Das erschütternde Ergebnis: Bei fast jedem dritten Jugendlichen waren damals Corona-bedingte psychologische Auffälligkeiten zu beobachten. Darunter depressive Symptome, psychosomatische Folgen wie Magen- oder Kopfschmerzen. In einer österreichischen Studie im Frühjahr 2021 mit 3000 befragten Jugendlichen wurden bei mehr als der Hälfte von ihnen ebenfalls eine depressive Symptomatik, bei 16 Prozent sogar regelmäßige suizidale Gedanken festgestellt.[ii]

Vor dem Hintergrund der psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen muss die Lage unserer Schüler leider auch so beschrieben werden: Der natürliche Initiations-Prozess, d. h. die Entwicklung von der Kindheit ins Jugendalter und von der Adoleszenz ins Erwachsensein etwa während der gymnasialen Schulzeit, hat bei vielen Schülern doch eine merkliche Schlagseite oder zumindest eine deutliche Verzögerung erfahren. Denn der regelmäßige Kontakt mit Gleichgesinnten außerhalb des Elternhauses ist entscheidend für diese beiden Entwicklungsprozesse, die eine schrittweise Ablösung von den Eltern und zugleich den organischen Aufbau eines eigenen Bekannten- und Freundeskreises bedeuten. Und diese natürlichen Kontakte haben nun seit über eineinhalb Jahren zumindest teilweise gefehlt.

Die Königsaufgaben der Lehrkraft sind jetzt gefragt

In diesem Schuljahr ist hoffentlich Präsenzunterricht weiterhin die Regel. Wie nach einem heftigen und lang andauernden Sturm können dann die Schäden besichtigt und anschließend beseitigt werden, die die Corona-Pandemie bei den SchülerInnen angerichtet hat – bezüglich ihres Wissensstandes und ihrer psychischen Verfassung.

Es wird sicher eine Herkulesaufgabe sein, in den einzelnen Schulen spezielle Kurse zum Aufholen der Lernrückstände einzurichten und den davon am meisten betroffenen Schülern zu empfehlen, daran auch teilzunehmen. Mindestens ebenso wichtig finde ich es jedoch, unsere SchülerInnen aus Versagensängsten, Depressionen, Vereinsamung und Isolation heraus zu holen, in denen sich nicht wenige von ihnen während der Lockdowns befanden und zum Teil auch jetzt noch feststecken. Ihre Situation im Unterricht jetzt bewusst zu thematisieren, ist ein Weg dazu. Die Fächer Deutsch, Sozialkunde, Ethik und Religion erscheinen mir für diese psycho-soziale Aufgabe geradezu prädestiniert.

Darüber hinaus sind wir Lehrkräfte aber alle herausgefordert, unseren Schülern jetzt beizustehen, gerade weil ein Ende der Corona-Krise immer noch nicht wirklich in Sicht ist. Dazu müssen wir uns jedoch unserer eigentlichen „Königsaufgaben“ als LehrerInnen bewusst werden. Diese eigentlichen pädagogischen Aufgaben möchte ich in folgenden Thesen abschließend zusammenfassen:

 

  1. These: KönigIn im Klassenzimmer

Im Klassenzimmer bin ich mein eigener König bzw. meine eigene Königin. Trotz all der administrativen und organisatorischen Vorgaben darf ich nie vergessen, dass ich große Entscheidungsspielräume habe – trotz allem. Diese sollten gerade jetzt vermehrt genutzt werden.

 

  1. These: Hunger nach positiver Zuwendung

Die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen hungern nach Führung, nach positiver Bestärkung, nach seelisch-geistiger Unterstützung, ja überhaupt danach, als menschliche Wesen in ihrer Entwicklung auf dem Weg zur eigenen Persönlichkeit wahrgenommen und bestätigt zu werden. Hier wird unser eigentliches Lehrer-Berufsethos nun elementar berührt und angefragt.

 

  1. These: Beziehung als psychische Nahrung

Der altbekannte Slogan „Erziehung durch Beziehung“ erlebt gerade jetzt am Ende der Pandemie eine unerwartete Renaissance und eine dringende Notwendigkeit. Denn die meisten unserer SchülerInnen sehnen sich nach einer (guten) Beziehung zur Lehrkraft. Diese Beziehungsebene ist niemals digitalisierbar und operationalisierbar, sie wird immer analog bleiben. Viele unserer SchülerInnen brauchen jedoch diese Beziehung zu ihrem Lehrer wie eine tägliche (psychische) Nahrung, um sich entwickeln zu können.

 

  1. These: Empathie gefragt

Gerade jetzt in diesem Schuljahr sind wir Lehrkräfte ganz unabhängig von unseren jeweiligen Fächern als mitfühlende Menschen, als Psychologen und als Seelsorger gefragt wie nie zuvor. Auch diese Eigenschaften gehören für mich zur Königsaufgabe von uns LehrerInnen. Denn ein guter König/eine aufmerksame Königin kümmert sich um seine/ihre „Untertanen“, sorgt für sie auf allen zur Verfügung stehenden Ebenen, hilft, wo er/sie nur kann. Und unsere Schüler sind uns eben anvertraut und jetzt besonders bedürftig nach dieser Zuwendung.

 

  1. These: Orientierung und Vision gefragt

Konkret brauchen unsere SchülerInnen in uns LehrerInnen nun Orientierung, mentale und psychische Leitplanken, Ermutigung, Hoffnung, Visionen, einen Impulsgeber fürs Leben, aber auch einen Helfer in der ganz praktischen Aufholung von Lernrückständen und in der Befreiung von schulischen Versagensängsten und geistigen Blockaden.

 

Fazit: Gerade für dieses Schuljahr sehe ich eine große Verantwortung und eine nicht zu unterschätzende Aufgabe für uns Lehrer, die uns anvertrauten Schüler sowohl schulisch-lerntechnisch als auch psychisch-sozial in ihrem Persönlichkeitsprozess zu unterstützen und zu begleiten, so dass die vielfältigen Wunden heilen und Blockaden weichen können, die uns allen die Corona-Pandemie beschert hat.

 

Peter Maier, Gymnasiallehrer a. D., Jugend-Initiations-Mentor, Autor

                                                                                                                  

Literatur zur Pädagogik:

(1) „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale“

      ISBN 978-3-86991-404-6 (18,99 €, Epubli Berlin)

      eBook: ISBN 978-3-753176-25-3 (Epubli Berlin 2021, Preis: 11,99 €)

 

(2) „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band II: Heldenreisen.“

      ISBN 978-3-86991-409-1 (19,99 €, Epubli Berlin)

      eBook: ISBN: 978-3-752970-59-3 (Epubli Berlin 2020, Preis: 12,99 €)

 

(3) „Schule – Quo Vadis? Plädoyer für eine Pädagogik des Herzens“.

      ISBN: 978-3-95645-659-6 (20,99 €, Epubli Berlin)   

      eBook: ISBN: 978-3-752956-93-1  (Epubli Berlin 2020, Preis: 12,99 €)       

                                                                                                                              

Weitere Infos und Buch-Bezug:

www.initiation-erwachsenwerden.de

 und

www.alternative-heilungswege.de

 

[i]           Süddeutsche Zeitung vom 29./30. Mai 2021, BUCH ZWEI, S. 11

[ii]          vgl. ebd.

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