Wir sind entzückt, wenn unsere Kinder stolz ihre ersten Kritzeleien präsentieren. Jedes Kind setzt gerne Zeichen – bis es uns ausgetrieben wird. Das ist oft gar nicht böse gemeint, sondern einfach nur falsch verstandener eingeimpfter Perfektionismus: Denn ein Baum sollte doch ausschauen wie ein Baum, oder doch nicht?

Die Kunst- und Wildnispädagogin Verena Hillgärtner („Nature Journaling“, erschienen im Kosmos Verlag) verfolgt da einen gänzlich anderen Weg – und nimmt damit den ganzen Druck des „Das muss doch so und so ausschauen-Zeichnens“ von unseren Schultern: „Du übst das Zeichnen, damit du die Welt mit all ihren Wundern entdecken und dokumentieren, wieder neugierig sein und freudvolle Zeichnungen in deinem Journal hinterlassen kannst. Übe Zeichnen, um neu sehen zu lernen. Es ist egal, ob und wie viel Talent du hast. Sei mutig und trau dich zu üben!“

Menschen haben immer schon gerne Spuren hinterlassen – denken wir nur an die Höhlenzeichnungen. Aber sind diese etwa im herkömmlichen Sinne perfekt gezeichnet? Eher nicht. Trotzdem sind wir davon fasziniert. Na also! Gib dir selbst – ob groß oder klein – die Erlaubnis, zu zeichnen, zu malen, auch wenn du tausendmal gehört hast, du habest eben kein Talent. Ja, willst du denn Picasso werden? Und, weil wir schon dabei sind: Ich vermute stark, auch Picassos früheste Zeichnungen waren nicht gerade grandios.

Hillgärtner: „Die große Magie hinter zauberhaften Zeichnungen ist schlicht und einfach jahrzehntelange Übung. Genaues Beobachten von Herzen ist fürs Zeichnen wichtiger als ‘Talent’!“

Achtsamkeitsübung Zeichnen, Malen zum Stressabbau

Zeichnen, sich ausdrücken ohne Druck, kann so vieles, dass uns oft gar nicht bewusst ist – außer, dass es riesig Spaß macht, verbessert es: Selbstreflexion, Achtsamkeit, Stressabbau, Kommunikations- sowie Problemlösungsfähigkeit, und vieles mehr. Vergessen wir also schlechte ZeichenlehrerInnen, die uns nicht die Freude am kreativen Ausdruck gelehrt, sondern uns genau diese ausgetrieben haben – mit gänzlich falschen Ansprüchen und Ansätzen. Sich auszudrücken sollte einfach eine lustvolle Tätigkeit sein und niemals mit gut oder schlecht bewertet werden.

Kommunikationsdesignerin Sandra Süsser (The Coaching Artist) meint dazu etwa: „Mit dem Zeichnen lernen und dem damit verbundenen Wahrnehmen lernen, schulst du nicht nur dein Verständnis nach innen zu dir selbst, sondern auch nach außen hin zu anderen und der Welt.“  Empathie und Vorstellungskraft wachse, so wie man beim Zeichnen lerne, alles aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Ein kleiner persönlicher Tipp und eine Bitte noch von mir als Zeichenlehrerin und Mutter: Bitte entmutige niemals deine Kinder! Zeichnen fängt mit genau schauen lernen an. Nimm dir die Zeit und schau etwas genau an, vielleicht den Baum vor dem Fenster. Verfolge seine Linien, seine Konturen, nimm seine unzähligen Arten von Grün wahr, zeichne gemeinsam mit deinem Kind – nicht das Ergebnis zählt, sondern der Vorgang selbst. Du musst dein Kind nicht „verbessern“, es wird ganz von selbst durchs Dranbleiben „besser“ werden. Lass Kreativität einfach „passieren“!

Und nun ein paar praktische Ideen für den Anfang:

 

  • „Stiftekilometer laufen“:

Das bedeutet: immer wieder rausgehen, Stifte zücken, Journal aufschlagen, dich nach Naturwundern umschauen, zeichnen.

  • Kringel und Kreise zeichnen:

Eine Aufwärmübung für die Hand-Augen-Koordination. Du füllst einfach eine Seite mit möglichst gleichmäßigen Kreisen in verschiedensten Größen.

  • Im „Blindflug“ zeichnen:

Zeichnen ohne hinzusehen nimmt dir die Angst vor der leeren Seite. Nimm zum Beispiel ein Laubblatt in die eine Hand und zeichne seine Konturen, ohne dabei auf dein Zeichenblatt zu schauen! Konturenzeichnungen werden zwar kein exaktes Abbild, aber sie fangen das Wesen des Laubblattes ein – und das kann richtig toll aussehen.

  • „Verkehrtes“ Malen:

Male mit deiner nicht-dominanten Hand, bei den meisten ist das die linke. Beginne etwa mit einer Blindflug-Zeichnung (s.o). Du kannst auch probieren, mit dem Fuß, dem Mund, oder von einer anderen Person geführt, zu zeichnen. Das macht Spaß und automatisch müssen wir dabei von unserem Wunsch nach einer perfekten, hübschen Zeichnung ablassen.

Buchtipps:

  • Hillgärtner, V.: Nature Journaling. Dein Weg zu mehr Kreativität, Naturverbindung und Neugier. Verlag Kosmos, Stuttgart, 2023.
  • Ryser, N./Szücs, R.: Art Assignments. 18 Übungen zu Künstlerinnen und ihren Werken. Haupt Verlag, Bern, 2023. Anhand von 18 bekannten und weniger bekannten Künstlerinnen werden 18 Kunstprojekte zum selbst Ausprobieren vorgestellt.

Daniela Christl