Viele Kinder und Jugendliche leiden derzeit an fehlenden Kontakten und Freizeitaktivitäten, eintönigem Home-Schooling. Wie können Eltern ihnen da unter die Arme greifen? Darauf hatte die Wiener Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger Antworten in einem Webinar. Der Grünschnabel hat zugehört.

Die Corona-Krise mit dem damit verbundenem Home Schooling und Distance Learning trifft junge Menschen ganz besonders. „Wir sind alle schon Corona-müde. Wenn es um Belastungen der Jugend geht, muss man sich auch jene der Eltern ansehen“, erklärt die Wiener Psychotherapeutin.

Wie geht es denen also? Auch die Eltern spüren die Auswirkungen der lange andauernden Isolierung und der Krise. Das liege auch daran, dass folgende Punkte der Salutogenese pandemiebedingt negativ beeinflusst werden.
Damit wir uns rundherum gesund fühlen, sollten wir …

1. … das Gefühl haben, die Welt zu verstehen, sich darin zurechtzufinden.
2. …das Gefühl haben, etwas bewirken, gestalten zu können. Kurz: Selbstwirksamkeit empfinden.
3. …das Gefühl haben, dass das was man tut und geschieht, Sinn ergibt.

„Alle drei Punkte, die zu einer langfristigen Gesundheit gehören, wurden durch die Krise ausgeknipst“, so Leibovici-Mühlberger. „Fühlen wir Erwachsene uns belastet, so läuft auch die Kommunikation mit den Kindern oft nicht ganz rund.“ Viele von uns fühlen sich „wie unter einer Corona-Käseglocke“, meint die Wiener Medizinerin. Die Krise, die mit der Pandemie einhergeht, scheint auf alles zu drücken, begrenzt uns, definiert, was möglich ist und was nicht, verlangt uns eine neue Normalität ab. Dies ist auf die Dauer emotional und psychisch belastend – auch und gerade im Hinblick auf die drei Punkte der Salutogenese.

Trotz vieler Information Begreifen schwierig
Wir erhalten haben zwar viel Informationen zur derzeitigen Situation, dennoch fällt es schwer, die Vorgänge um uns herum zu verstehen. Viele haben das Gefühl, derzeit nicht viel selbst bewirken zu können. Auch der Sinn der Maßnahmen ist für die meisten nur schwer zu beurteilen. So ist es wenig verwunderlich, dass sich zwei Extreme herauskristallisiert haben: Die beflissenen Befürworter und die strikten Gegner.

Das Nicht-Verstehen, das Gefühl der Ohnmacht und die Frage, ob die Maßnahmen eine Wirkung zeigen werden, führen zu ständigen Irritationen. Dies bedeutet für den Körper einen Anstieg der Stresshormone, was uns reizbar und krankheitsanfällig machen kann. Deshalb haben viele – Jung und Alt – das Gefühl, Corona-müde, ausgelaugt zu sein.

Die Jugend braucht uns
Eine Studie von Bertelsmann zum „Leben junger Menschen in der Corona-Pandemie“ besagt: Rund 70 Prozent der befragten Jugendlichen sind schwer verunsichert und blicken mit Angst in die Zukunft. Rund 60 Prozent geben an, sich einsam zu fühlen. „Die Jugend braucht uns also“, so Martina Leibovici-Mühlberger.

Dank der langen Jahre an positiver Lebenserfahrung haben wir als Erwachsene viele Haltegriffe, an die wir uns in der Krise klammern und daraus Zuversicht schöpfen können. Bei Kindern und Jugendlichen dagegen ist die Zeit der Krise proportional zu ihrer Lebenszeit eine wesentlich längere. Zudem machen die entwicklungspsychologischen Anforderungen auch in Zeiten der Pandemie keine Pause. Sich von den Eltern emanzipieren und eigene Ideen umsetzen wird von der Notwendigkeit des Social-Distancings und dem Dogma, möglichst zu Hause zu bleiben, konterkariert.

Peer-Group-Erlebnisse nur über digitale Medien
Wenn sich der überwiegende Teil des Lebens in den elterlichen vier Wänden abspielt, sind Selbstwirksamkeitserfahrungen nur schwer möglich. Fehlanzeige heißt es auch für: Den persönlichen Radius erweitern und den begrenzenden und beschützenden Zaun ausweiten. „Die Teenager sitzen de facto seit einem Jahr im Kinderzimmer und machen Home Schooling.“

Die Peer Group jedoch ist das Labor für das spätere Leben als Erwachsener. Die für den Teenager so prägenden gruppendynamischen Prozesse sind pandemiebedingt weitgehend unterbunden – oder verlagern sich in die digitale Welt und/oder Social Media. Wie soll also ein junger Mensch seinen Platz in der (analogen) Gruppe ausloten – ohne persönliche Begegnungen mit Seinesgleichen? Es gibt zwei Extreme, so die Psychologin: Die einen entwickeln sich zurück zu ängstlichen Nesthockern, die anderen suchen im raschen Erwachsenwerden Zuflucht.

Nesthocker und Nestflüchter
„Es gibt Kinder, die früher sozial integriert und engagiert in der Schule waren, die jetzt nicht mehr ihr Zimmer verlassen wollen, jeden Kontakt nach außen verweigern“, erzählt Leibovici-Mühlberger aus ihrer Praxis. „Durch die Digitalisierung des Unterrichts wird den Kindern zudem beim Selbstmanagement viel abverlangt. Viele sind darauf nicht vorbereitet.“

Sie verlieren den Anschluss in der Schule, „versandeln“, die Motivation und entsprechend auch die Noten sind schlecht. Andere Jugendliche reagieren mit Flucht, gehen einfach ihrer Wege, lassen ihren Frust in der Familie aus, wirken aggressiv und streitsüchtig. Viele SchülerInnen lassen jede Tagesstruktur vermissen, kommen morgens nicht aus dem Bett, tragen den ganzen Tag den Pyjama, essen nicht regelmäßig und bleiben bis spät in der Nacht wach.

Wie können Eltern helfen?
„Wir Erwachsenen haben Führungsverantwortung, es ist unsere Aufgabe, Struktur zu geben, sodass sich der junge Mensch in der neuen Situation zurecht findet“, so die Psychotherapeutin. Das Thema in der Pubertät ist, hinsichlich Nähe und Autonomie die richtige Balance zu finden.
Bei einem respektvollen Gespräch tauscht man sich aus mit dem Sohn oder der Tochter, wobei aber auch deren Privatsphäre respektiert werden muss. Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit Takt, Feingefühl und Respekt vor den besonderen Herausforderungen dieser Zeit stehen die Eltern den Jungen in dieser Situation zur Seite.

Viele Kinder und Jugendliche finden Home Schooling auf die Dauer demotivierend. „Statt Disziplin und sich Zusammenreißen einzufordern, wird es mehr bringen, einen Spaziergang vorzuschlagen und dann einmal zu fragen: Wie geht es dir wirklich? Was können wir tun, um für dich die Situation zu verbessern?“

1. Das Gespräch (auf Augenhöhe) suchen, in Verbindung bleiben mit dem jungen Menschen, urteilsfrei zuhören, wenn er von seiner Situation erzählt, Bedürfnisse ausloten.

2. Gemeinsam überlegen, wie diese Bedürfnisse, etwa nach Kontakten mit FreundInnen, Abwechslung, Unternehmungen, mehr Freiraum, Selbstorganisation … nachgekommen werden kann.

3. Bei fehlender Struktur empfiehlt es sich, gemeinsame Pläne zum Tagesablauf zu erstellen – und diese auch niederzuschreiben. Das Commitment wird noch verstärkt, wenn alle davon Betroffenen diesen Plan unterschreiben und dieser an prominenter Stelle aufgehängt wird.

Zum Beispiel: Ich wecke dich auf um 7 Uhr, dann hast du noch genügend Zeit, zu duschen, dich anzuziehen und ausgiebig zu frühstücken. So startest du gestärkt in deinen Home-Schooling-Unterricht. Nach dem Mittagessen gehst du raus Trampolin hüpfen, eine Runde skaten, Rad fahren oder wir spielen eine Runde Tischtennis…, damit du dich vom stundenlangen auf-den-PC -starren erholen kannst. Danach erledigst du deine Hausaufgaben und kannst in Lerngruppen oder auch einfach nur privat dich mit deinen FreundInnen über Discord austauschen. Um 19 Uhr trifft sich die Familie zum gemütlichen Abendessen und plaudern. Die (private) Zeit am Handy oder Computerspielen wird pro Tag wird limitiert.

4. Organisation: Wenn die Schule ins Chaos abdriftet, hilft es vielen Kindern, gemeinsam mit den Eltern die Abläufe durchzugehen. Wie kann ich was erledigen? Wo ablegen? Was zuerst etc..

5. Hilfreich ist es auch, eine Bezugsperson für den jungen Menschen zu definieren (die beste Freundin, den Lieblings-Sportpartner etc.), mit dem sich das Kind, der Jugendliche regelmäßig trifft, ev. vorher testen, damit ohne schlechtes Gewissen persönlicher Austausch (nicht digital!) und gemeinsame Unternehmungen möglich sind.

6. Zusammenhalt: Das Wichtigste ist es, dem belasteten Nachwuchs zu vermitteln: Ich versteh dich, ich stehe hinter dir, wir stehen das gemeinsam durch.

Zur Person:
Martina Leibovici-Mühlberger wurde 1959 in Wien geboren. Die studierte Medizinerin war als praktische Ärztin, Gynäkologin und Ärztin für Psychosomatik tätig bevor sie Psychotherapeutin wurde. Leibovici-Mühlbeger leitet die ARGE Erziehungsberatung und Fortbildung GmbH, ein Ausbildungs-, Beratungs- und Forschungsinstitut mit sozialpsychologischem Fokus auf Jugend und Familie. Sie hat zuletzt das Buch “Startklar – Aufbruch in die Welt nach Covid-19” veröffentlicht.



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Maria Zamut