In seiner ganz privaten Umfrage nach dem guten Leben erhält Papa-Blogger Wolfgang Nell mitunter überraschende Antworten. Die Befragten sind zudem erstaunt, dass sie auf dem Gebiet „Leben“ als ausgewiesene ExpertIn gelten und die Weisheit ihrer Antworten  verblüfft sie oft selbst am meisten.  

“Umarmt eure Kinder”, höre ich einen älteren Freund antworten, nachdem ich ihn gefragt habe, welchen Rat er Müttern und Vätern mit jungen Kindern mitgeben möchte. Er habe seine Kinder nie umarmt und das wäre sein größter Fehler gewesen. Jetzt kuschelt er ab und zu mit seinen Enkelkindern, aber das würde ihm nicht so recht gelingen. “Ich habe darin wenig Übung”, bedauert er.

Ich bin von diesem Gespräch überrascht. Leo ist in meinen Augen ein aufmerksamer, achtsamer und kluger Mann. Möglicherweise habe ich alles andere von ihm erwartet, jedoch nicht eine Aufforderung zum Kuscheln!

Ich kenne ihn schon viele Jahre. Mit großer Begeisterung und der Stimme eines liebenden und stolzen Menschen spricht er von seiner Partnerin und den beruflichen Erfolgen seiner Kinder. Ich spreche gerne mit ihm. Das liegt wohl darin, dass er sich selbst mit ehrlichen Worten immer ein wenig in Frage stellt, so als würde er niemals auf die Idee kommen, dass er sich als Mann nicht weiterentwickeln müsste. Denn mitunter sei er sich nicht immer sicher, ob seine Vorstellungen über sich und seine Umwelt den Notwendigkeiten dieser Zeiten entsprächen.

Er liebt Autos, doch wenn er mit seinen Enkelkindern über den Klimaschutz spricht, nährt das den Gedanken, ob er überhaupt noch ein Auto brauche oder ob er nicht die Karre mit anderen teilen sollte. Das mit dem Umarmen geistert ihm schon lange im Kopf herum, weil er sich nicht erinnern kann, ob er jemals in seiner Kindheit umarmt worden war. Er kenne dieses Gefühl nicht, mit blutenden Knien liebevoll versorgt zu werden. Die Wunde wurde höchstens unter höllischen Schmerzen mit Alkohol gereinigt.

Seit einiger Zeit beginne ich zunehmend Menschen in meinem Umfeld zu fragen, was sie mir an Vorschlägen mitgeben können für ein gutes Leben. Natürlich impliziert diese Frage immer eine Deutung von der eigenen Vorstellung des guten Lebens, aber auch die Nachfrage, warum ich diese Frage gerade an sie stellte.

Ich antworte meist, dass ich bei Zahnschmerzen meine Zahnärztin aufsuche. Außerdem finde ich, dass meine Kinder von ihren PädagogInnen in der Schule gut unterrichtet werden. Ebenso bin ich froh, dass die Bremsen von meinem Rennrad von einer kompetenten Fahrradmechanikerin überprüft werden und nicht vom Floristen. Für viele Fragen und Anforderungen gibt es ExpertInnen.

Bei der Frage um das gute Leben habe ich den Vater und Großvater Leo befragt. Denn Leo hat mit seinem Leben als Vater und Großvater, Lebenspartner, Musiklehrer, Fußballfan, Bergsteiger, Kartenspieler, Sammler und Hobbytischler und Freund unendlich viele Erfahrungen gemacht und eine davon will er mir nach meiner Anfrage unbedingt mitteilen: “Umarmt eure Kinder!” Das Gefühl, seine Kinder zu wenig umarmt zu haben, ist eine seiner innigsten Erfahrungen. Diese Lebens-Erfahrung hat jeder Mensch und das macht sie und ihn zur Expertin und zum Experten für die Frage um das gute Leben.

Ich habe oft das Gefühl, dass viele Menschen dieses Wissen um sich selbst gar nicht wahrnehmen. Seit ich Menschen danach frage, was sie mir mitgeben könnten, erlebe ich in ihren Gesichtern ein großes Erstaunen und eine große Freude, dass ich sie danach frage. Oft sind sie selbst von der Qualität ihrer Antworten überrascht und verwundert. Viele wissen ganz genau, was sie selbst für ein gutes Leben benötigen.

Es ist gut, dass ich meine Kinder oft umarme. Ich glaube, es tut uns allen gut. Leo hat mir geholfen, dass ich das nicht vergesse.

Wolfgang Nell (geb. 1970), akademischer Entwickler Sozialer Verantwortung, schreibt diesen Blog als Vater von drei Buben. Er kümmert sich zurzeit hauptsächlich um die Kinder im Alter von 7, 10 und 13 Jahren, während seine Frau Vollzeit als Ärztin arbeitet. Für Grünschnabel reflektiert er regelmäßig Erlebnisse aus seiner Familienwelt mit dem Lauf der „großen“ Welt, mit politischen und alltäglichen Geschehnissen.