Der Nervenkitzel ruft – nicht nur Erwachsene, sondern auch viele Jugendliche, die heutzutage keine Ablösungsrituale mehr vom Elternhaus haben. (Foto: Joujou/pixelio.de)

Wer kennt sie nicht, die Mutproben, mit denen sich Jugendliche immer wieder gegenseitig an persönliche oder gesellschaftliche Grenzen treiben und austesten, wie weit sie gehen können. Nicht selten bergen sie ein gewisses Gefahrenpotential und heraus kommt dabei oft: nichts. Dabei bleibt oft am Weg zurück, dass die Jugendlichen sich damit einfach nur von der Zeit der Kindheit abkapseln möchten. Hat man das erkannt, ist es leichter, dem Jugendlichen unter die Arme – statt sich selbst an den Kopf – zu greifen.

Die Pubertät ist eine von Eltern oft gefürchtete Phase. Viele wünschen sich, dass sie „glimpflich“ verläuft und der häusliche Friede davon nicht zu sehr beeinträchtigt wird. Dabei schenken wir aber dem zu wenig Beachtung, was sich in dieser Zeit in unseren Kindern abspielt. In der Pubertät gehen viele Jugendliche den letzten Schritt, in dem sie sich vom Elternhaus abkapseln und selbständige Persönlichkeiten mit einem eigenen Leben werden. Wenn Eltern dies ignorieren, aus Unsicherheit oder aus Angst vor der Veränderung, ist das Kind auf sich alleine gestellt – und muss sich eigene Wege suchen.

Diese Zeit ist auch für viele Eltern ein schwieriger und schmerzlicher Prozess. Die Jugendlichen grenzen sich ab, verbringen viel Zeit mit ihren Freunden und sind selten zuhause. Das fühlt sich oft wie Liebesentzug an und als Elternteil befürchtet man, selbst nicht mehr wichtig für das eigene Kind zu sein – und das nach all den Jahren der Mühe, die man aufgebracht hat.

Diese Abkapselung ist jedoch in der Pubertät ganz natürlich – und zu einem gewissen Grad auch nötig, damit das Kind sich zu einem vollwertigen Erwachsenen entwickeln kann.

Die Krise: Gefahr und Potential

Jeder Übergang im Leben ist mit Veränderungen verbunden. So auch die Pubertät, in der sich körperlich und geistig sehr viel tut. Neben den ganzen Entwicklungen, die dadurch ermöglicht werden, gibt es in diesen Übergängen jedoch auch ein gewisses Krisenpotential. Sie sind mit zahlreichen Unsicherheiten auf Seiten der Jugendlichen verbunden – sei es in Bezug auf Zugehörigkeit, das eigene Körperbild oder auch den langfristigen Blick in die Zukunft.

Dieses Krisenpotential wird jedoch oft nicht entsprechend gewürdigt und wir verwenden wenig Zeit darauf, diese Themen zu bearbeiten. Selten erleben wir die Übergänge zwischen den Lebensphasen  ganz bewusst, sondern lassen sie einfach geschehen. Eine kleine übergangene Krise kann sich so aber zu einer großen Krise oder zu einem kollektiv krisenhaften Alltag entwickeln.

Da wir uns wenig bewusst mit dem befassen, was hinter uns liegt und was uns im neuen Lebensabschnitt erwartet, klammern sich viel an das Alte und wollen es nicht loslassen, während sie das Neue nicht annehmen können. Somit ist man jedoch nicht mehr frei und offen für das anstehende Neue.

Übersehen wird dabei, welches Potential in einer solchen Lebenskrise liegt. Das griechische Wort „crisis“ bedeutet neben Krise auch Entscheidung, Trennung und Wahl. Genauso doppeldeutig ist das chinesische Schriftzeichen. Es steht sowohl für „Gefahr“, als auch für „Chance“.

So steckt in jeder Krise die Wahlmöglichkeit, sie bewusst anzunehmen oder sich dagegen zu wehren. Wir entscheiden uns ständig zwischen bewusster Auseinandersetzung und Aufschub.

Erwachsen-Werden in früheren Kulturen

In früheren Stammeskulturen gab es noch ein viel stärker ausgeprägtes Ritualwesen. So mussten junge Männer oft in „Walk Aways“ einige Tage in freier Natur verbringen, ganz auf sich alleine gestellt. Das gab ihnen die Möglichkeit, Zeit ganz mit sich selbst zu verbringen – sich selbst dabei auch kennen zu lernen und über die eigene Zukunft nachzudenken. Darüber hinaus bedeutete diese Erfahrung, dass sie ihr eigenes Potential erleben konnten. Sie waren dazu fähig, nur aus eigener Kraft „draußen“ zu überleben und ihre täglichen Bedürfnisse zu erfüllen.

Auch im Mittelalter waren Ablösungsrituale noch stärker verbreitet. Nach ihrer Ausbildung mussten Handwerksburschen in die Fremde ziehen und sich dort einige Jahre ihr Leben verdingen. Das ewige Muttersöhnchen, das bis 35 bei den Eltern wohnt, gab es nicht.

Und heute?

Heutzutage erleben viele Jugendliche und junge Erwachsene diesen Ablösungsprozess nicht mehr so stark. Studiert wird oft am Heimatort, aus Kostengründen, oder in einer näheren Stadt, so dass der Kontakt zum Zuhause stets vorhanden ist.

Auch einen „Walk Away“ gibt es nicht mehr – vielen Eltern würde es wohl schlaflose Nächte bereiten, beim Gedanken, dass ihre Kinder nur mit einem Schlafsack und einer Taschenlampe beladen drei Tage lang in der Wildnis ausgesetzt werden.

So suchen sich viele Jugendliche Ersatz-Rituale, in denen sie zeigen können, wie erwachsen sie sind. Die zunehmende Alkoholproblematik bei Jugendlichen ist nur eine Ausprägung davon. Die Jugendlichen eignen sich den Alkohol – ein Suchtmittel für Erwachsene – für ihre Lebenswelt an. Andere wiederum gehen in die Extreme und auf Extremsportarten. Sei es das „reiten“ auf Zügen oder auf schräg stehenden Autos („Sidewall Skiing“), wie aktuell der Trend in Saudi-Arabien, oder auch Sportarten wie Bungee jumping, Wildwasser fahren oder free climbing.

Alternativen anbieten

Wenn Eltern, Jugendgruppen (z.B. Pfadfinder) oder Vereine kontrollierte Alternativen finden und anbieten, wie dem Drang der Jugendlichen, sich loszulösen, in einer geschützteren Atmosphäre nachgekommen wird, wäre das wohl für viele junge Erwachsene eine Bereicherung. Denn die Rituale sollen vorwiegend eines zeigen: dass die Jugendlichen Verantwortung für sich übernehmen können und bereit sind ihren eigenen Weg zu gehen. Der Traum von der ewigen Jugend wird zwar in den Medien vielfach verbreitet, viele Jugendliche freuen sich dennoch sehr endlich in die Selbständigkeit zu gehen.

In Schulen und in der Jugendarbeit in Deutschland wird daher bereits fallweise ein „Walk Away“ angeboten. In der so genannten „Solozeit“ gehen die Jugendlichen für 24 Stunden in die Wildnis. Im Gepäck haben sie nur einen Schlafsack, einen Rucksack, eine Regenplane und genug Wasser. Moderne Medien wie Smartphone, MP3-Player oder sogar eine Uhr sind tabu. Für viele stellen diese 24 Stunden bereits eine große Hürde dar – wer sich darübertraut, ist danach jedoch immens stolz. Die Jugendlichen erleben, dass sie allein sein können, sie beweisen ihren Mut und ihre Entschlossenheit und erhalten danach Anerkennung durch die Erwachsenen.

Auch in anderer Form gibt es Ablösungsrituale in unserer heutigen Gesellschaft. Einige Jugendliche absolvieren einen Gastschul-Aufenthalt während der Schulzeit, andere nehmen sich nach der Schule oder Ausbildung ein „Time-Out“ und gehen auf Weltreise oder engagieren sich bei einem freiwilligen sozialen Jahre. Auch ein Au-Pair-Aufenthalt im Ausland kann zur Ablösung dienen, genauso wie aus Auslandsjahr während des Studiums. Denn ist der junge Mensch länger von zuhause weg, ist er dazu gezwungen, sich sein Leben „in der Fremde“ selbst zu organisieren, eventuell in einer fremden Sprache und ohne die Möglichkeit, auf unmittelbare Unterstützung von zuhause zurückgreifen zu können. Das ist zweifellos für einige eine große Hemmschwelle und braucht Überwindung – der Stolz jedoch, wenn man darauf zurückblickt und weiß, man hat das alles selbst geschafft, wiegt unendlich mehr.

 

Buchtipp:

Peter Maier: “Initiation, Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft, Band I: Übergangsrituale, Band II: Heldenreisen

Verlag Monsenstein und Vannerdat, Münster 2011

 Manuela Hoflehner