Kinder lieben es, wenn die Großeltern von früher erzählen. Foto: Fotolia/photographee.eu

Kinder lieben es, wenn die Großeltern von früher erzählen. Foto: Fotolia/photographee.eu

“Ach, Kind! Ich habe doch nichts zu erzählen,“ seufzt die Großmutter. Seit einigen Tagen hört Papa-Blog-Schreiber Wolfgang Nell, wie seine Kinder ihre Großeltern bitten, von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Auch bei ihm war die große Narbe auf dem Bauch seines Vaters der auslösende Moment, die vergangenen Tage der Großeltern zu beleuchten.

Nach 1945 lag im Wald, auf den Feldern und Wiesen um Steyr allerlei gefährliches Kriegszeug. Mein Vater hatte als Sechsjähriger eines dieser Dinger gefunden und mit seinem Spielkameraden mittels Hammer und Schraubenzieher zum Explodieren gebracht. Wie ein Wunder erschien es damals allen, dass der kleine Bub diese massiven Verletzungen aller inneren Organe nach vielen Monaten Krankenhausaufenthalt überlebt hat.

Zurück blieb diese riesige, einem Krater gleichende Narbe am Bauch. Diese Narbe war im Kinder-Dasein meines Bruders und mir eine eigenartige Öffnung in eine besondere Zeit, die in den 70er Jahren noch gegenwärtig war. Der Krieg war noch keine abstrakte Geschichte aus anderen Kontinenten. Der Krieg hatte Folgen und diese sind an meinem Vater und auch an mir nicht spurlos vorübergegangen.

Für uns Kinder wäre es undenkbar gewesen, mit einem Spielzeugrevolver schießend als Cowboy durch das Haus zu stürmen. Ich spürte das Verlangen, die Wunde meines Vaters meinen Großeltern als Spiegel vorzuhalten: „Erzählt mir von dieser Zeit, die einem Kind solche Schmerzen antut?”

Natürlich hatte meine Großmutter eine Menge zu erzählen. In ihrer Vorstellung hatten der Heilige Antonius und der Heilige Karl Borromäus wesentlich zur Genesung meines Vaters beigetragen. Zu den Gebeten hatte die Verabreichung des neuen Wirkstoffes Penicillin sein Überleben ermöglicht.

Ich weiß nicht, wie oft wir in unseren Kindheitstagen den Satz gehört haben: “Das willst du nicht wissen!“ Aber ich wollte immer alles wissen, so wie meine Kinder immer alles wissen wollen.
Ich habe als Kind vom ersten Mann meiner Oma erfahren, der als ganz junger Mann in Stalingrad zu Tode gekommen ist, vom tragischen Tod eines ihrer Kinder, von den Mühen alleine mit den Kindern eine Landwirtschaft zu führen. Während einer ihrer Erzählungen wurde sie ganz still und nachdenklich. Sie sprach so leise: „Das Schlimmste am Krieg waren die Verleumdungen. Du hast keinem mehr trauen können. Ein falsches Wort und du bist weg gewesen!“

„Wohin sind sie verschwunden?“ Die Antwort dieser Frage blieb sie mir schuldig. Damit hat sie in mein Herz einen Keim des Widerstandes gegen die Auflösung der Mitmenschlichkeit gepflanzt. Nicht ohne Grund wurden die Menschenrechte im Jahr 1948 nach den Tagen der Menschenverachtung von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Sie sind das Fundament unserer Demokratie. Misstrauen – Verleugnungen – Ausgrenzungen höhlen diesen Unterbau aus. Übrig bleiben immer Narben.

Wenn Kinder ihre Großeltern und Eltern um das Erzählen ihrer Geschichte(n) bitten, dann darf neben den heiteren Episoden vergangener Tage auch von den Narben erzählt werden. Natürlich tun Wunden weh. Jedes Kind kann von den eigenen Wunden erzählen. Sie gehören versorgt und gut verbunden. Ab und zu dauert es wirklich lange, bis die Wunde verheilt ist. So manches Knie erzählt mit dem Hinweis auf die Narbe Bände über Radstürze auf hartem Beton. Letztendlich wird aber wieder, zumindest bei den meisten Verletzungen, alles gut. Es bleibt die Erinnerung an einen dramatischen Augenblick des Schmerzes und die stille Mahnung der Vorsicht: “Opa, warum hast du so etwas Komisches auf dem Bauch?“…

Wolfgang Nell (45), akademischer Entwickler Sozialer Verantwortung, schreibt diesen Blog als Vater von drei Buben. Er kümmert sich zurzeit hauptsächlich um die Kinder im Alter von 4, 7 und 10 Jahren, während seine Frau Vollzeit als Ärztin arbeitet. Für Grünschnabel reflektiert er regelmäßig Erlebnisse aus seiner Familienwelt mit dem Lauf der „großen“ Welt, mit politischen und alltäglichen Geschehnissen.