Praktische Erfahrungen zeigen, dass Naturerfahrungen ADHS-Kindern in ähnlicher Weise helfen können wie Psychopharmaka. Manche ExpertInnen werfen deshalb die Frage auf: Ist ADHS vielleicht ein Syndrom, das vom Mangel an Naturerfahrung verstärkt wird?

Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) wird oft kontrovers diskutiert. „Muss jeder Zappelphilipp mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden?“ wird da zum Beispiel gefragt. Etwa fünf Prozent der Kinder in Österreich leiden an ADHS. Sie sind unaufmerksam bzw. sehr leicht ablenkbar, motorisch hyperaktiv und sehr impulsiv.

Aus diesen Symptomen resultieren oft soziale Probleme und Schulschwierigkeiten. Um die Diagnose ADHS zu stellen, braucht es eine fachlich fundierte Untersuchung (möglichst durch eine/n Kinder- und Jugendpsychiater/in) unter Einbeziehung der elterlichen (und schulischen) Eindrücke, Beobachtung des Kindes und psychologischer Testungen sowie den Ausschluss anderer Ursachen für die Symptome.

Bei der Entstehung von ADHS spielen neben genetischen Voraussetzungen auch psychosoziale Faktoren eine Rolle. Man findet Veränderungen in der Anatomie des Gehirns und eine Störung der Aufmerksamkeitsregulierung durch bestimmte Botenstoffe (Dopamin, Noradrenalin).

Letzteres erklärt auch die Wirkung von Ritalin, einem Amphetamin-Abkömmling, der die Dopamin-Konzentration im Gehirn erhöht und dadurch eine bessere Selbststeuerung ermöglicht.
ADHS wird immer wieder auch als Symptom der heutigen Leistungsgesellschaft betrachtet. Dagegen spricht, dass das Störungsbild schon im 19. Jahrhundert (z.B. 1844 im „Struwwelpeter“) beschrieben wurde.

Im Zuge der Debatte um Ursachen von ADHS wurde von Richard Louv der Begriff „Naturdefizit-Störung“ geprägt. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass die konkrete Erfahrung von Natur mit allen Sinnen die Symptome von ADHS reduzieren kann. So konnten sich z.B. Kinder mit einer Aufmerksamkeitsstörung nach einem 20minütigen Spaziergang durch einen Park besser konzentrieren als nach einem 20minütigen Stadtbummel.

Unterrichtsprogramme im Freien über sechs Monate in den USA erhöhten u.a. die Problemlösefähigkeit, Kooperationsbereitschaft und Lernmotivation im Vergleich zum Unterricht im Klassenraum. Auch das sehr aufwändige Projekt „Wald statt Ritalin“ von Peter Vieres in Bochum zeigte deutlich verbessertes Sozialverhalten bei „WaldschülerInnen“ im Vergleich zur Kontrollgruppe.

Louv meint dazu: „Wenn es stimmt, dass die Naturtherapie ADHS-Symptome reduziert, dann könnte das Gegenteil ebenfalls zutreffen: ADHS ist vielleicht ein Syndrom, das vom Mangel an Naturerfahrung verstärkt wird.“ Die Konsequenz daraus wäre die Gleiche: ab in den Wald mit den Zappelphilipps – und mit allen anderen, damit sie keine werden!

Eva Grossmann